Chaostage auf der Freydis

Dienstag, 26.05.2015, 11:07:20 MESZ

Stand: 17.05.2015

Ihr Lieben,

Ein schöner und erlebnisreicher Törn nähert sich seinem Ende als wir am späten Nachmittag in unseren Zielhafen Kashiwazaki einlaufen. Diese 70.000-Einwohner-Stadt liegt 70 Kilometer von Niigata entfernt. Wir haben diesen Ort gewählt, weil wir durch den Taifun „Noul“ auf Tsushima in unserer Törnplanung in Verzug geraten sind.

Bereits am nächsten Tag werden unsere Mitsegler hier von Angehörigen abgeholt. Vorher wollen wir aber noch alle gemeinsam „Klar Schiff“ machen.

Vor dem Hafen überrascht uns ein dröhnender Empfang durch die Coast Guard, die uns mehrmals mit dem Hubschrauber umkreist. Über AIS weiss sie, wer wir sind. Sie verfolgt offensichtlich unsere Route, denn wir erhielten unterwegs mehrmals Aufforderungen auf Englisch über AIS, die Fischerei-Schutzonen zu beachten, d.h. genügend Abstand zum Land zu halten, und uns erreichten auch Warnungen vor Untiefen und Kursempfehlungen bei der Hafeneinfahrt nach Kashiwazaki. Diese Art der Betreuung auf See war für neu und ein wenig kam das Gefühl auf: „Big brother is watching you“.

Der kleine Hafen bietet nicht viele Möglichkeiten für uns anzulegen. Schließlich entscheiden wir uns für eine Pier, die jedoch, wie sich herausstellt, für Fischerei-Notfälle reserviert ist. Die Offiziellen wollen uns verlegen, aber wohin? Wir sollen in eine Marina in der Nähe, aber dort hat man keinen Platz für Boote unserer Länge, und im Hafen gibt es nur Kaimauern für Fischerboote. Also dürfen wir erst einmal bleiben, wo wir sind.

Im Hotel Misaki ganz in unserer Nähe, werden wir unsere gesammelten Abfälle los, bekommen einen Stadtplan und erste Informationen, wo was zu finden ist: Post, Supermarkt, Onsen, Rent a Car. Von der Cafeteria des Hotels genießen Mitsegler Peter und ich den Blick über den Hafen mit der roten Freydis. Ich nippe an einer Tasse heißem „cocoa with milk“ und lade unsere Emails herunter, Peter süffelt sein Bier und ruft seinen Cousin an, der an einer nicht weit entfernten Universität eine Professur für kreatives Filmen hat, und der ihn morgen abholen wird. Abends Abschiedsessen an Bord.

Tag 1 – Unglück und Unheil

Am nächsten Morgen werden wir am Kai für Notfälle selbst zum Notfall. Denn als wir alle Mann dabei sind, das Boot zu reinigen und den Motor anwerfen, um für den Staubsauger Strom zu erzeugen, ertönt plötzlich die Alarmsirene. Die Öldruck-Anzeige steht auf null. Der Motor wird sofort abgeschaltet.

Uns trifft der Schlag: Im Maschinenraum große Schweinerei, 15 Liter Maschinenöl tropfen von Wänden und Decke in die Bilge! Erich flucht und hält die Ursache in der Hand: Am Hochdruckschlauch, der von der Maschine zum Ölfilter führt, hat sich eine Pressung gelöst. Er nimmt den Schlauch ab. Über Internet muss in Deutschland ein Ersatzteil bestellt werden. Was uns aber vor allem beunruhigt, ist der Gedanke, dass die Maschine möglicherweise Schaden genommen hat. Immerhin vergingen einige Sekunden, bis sie abgeschaltet war. Dann hätten wir nämlich ein großes Problem.

In dieser Phase erscheinen plötzlich an die 20 Beamte vor unserem Boot: Hafenbehörde, Polizei, Immigration, Customs, Coast Guard. Wir werden ins Hafengebäude zitiert und dort ist es nicht die umständliche, aber immer freundliche Einklarierungsprozedur, die uns bisher in jedem Hafen Japans erwartete, sondern dieses Mal entpuppt sich das Treffen als ein Verhör mit ernsten Gesichtern und schneidenden Fragen, die von unserem Mitsegler Peter zwar so gut wie möglich übersetzt, und von uns so gut wie möglich beantwortet werden, aber nicht zur vollen Zufriedenheit der Beamten, die ein immer ernsteres und verbisseneres Gesicht aufsetzen.

Was uns in Jahrzehnten noch nie passiert ist: Erich, als Skipper wird aufgefordert, das Logbuch vorzulegen, sie wollen unsere Angaben zur Reiseroute überprüfen. Bei mir kommt Sorge auf, die Angelegenheit könnte eskalieren, denn nun wird auch Erich immer gereizter, zumal er starke Zahnschmerzen hat. Zum Glück trifft Fumiko ein, die japanische Frau unseres Mitseglers Dietmar. Ihr gelingt es, in ruhiger und sachlicher Weise die Wogen zu glätten und alle Ungereimtheiten auszuräumen: Die Beamten hielten uns wohl für Illegale oder wegen unseres längeren Tsushima-Aufenthaltes (nur 40 Meilen von Südkorea entfernt) für Schmuggler; schließlich sind Süd- und Nordkorea und auch Russland und China nur einen Katzensprung entfernt. Die Formalitäten werden nun freundlich erledigt, und als die Beamten von unserem Problemen im Maschinenraum hören, ist im Nu ein Mechaniker zur Stelle, der sich den Schaden ansieht – vor allem wohl, um sicher zu stellen, dass kein Öl in den Hafen fließt (was für die Sauberkeit japanischer Häfen spricht).

Nachmittags verlassen unsere Mitsegler mit ihren Angehörigen die Freydis. Anschließend hetzen wir ins Hotel Misaki – dem einzigen Ort, an dem wir Internetzugang bekommen. Dort bespricht Erich über Skype mit unserem Freund Thilo in Ostfriesland unser Problem. Fotos des Schlauches samt Verbindungsstücken schicken wir ihm über WhatsApp. Er will einem der Mitsegeler der nächsten Crew einen Ersatzschlauch mitgeben. Aber es ist sehr fraglich, ob die Zeit dafür reicht.

Nach einem anstrengenden Marsch am Abend in die Innenstadt zum Proviantkauf wollen wir noch einmal nach Deutschland telefonieren. Auf der Suche nach dem iPhone stellen wir das Boot auf den Kopf und rufen uns dann vom Hotel Misaki aus selbst an, um es zu lokalisieren – doch alles vergeblich.

Tag 2 in Kashiwazaki

Am Morgen beratschlagen wir gerade, wie wir hier zu einem neuen Schlauch kommen, als plötzlich zwei Männer – Takahashi-San und ein befreundeter Techniker – vor der Freydis stehen. Ob wir Hilfe bräuchten? Sie schauen sich den Schaden genau an, führen diverse Telefonate und nehmen den Schlauch mit. Sie wollen ihn reparieren lassen. Das ist wieder einmal typisch Japan!

Wir machen uns derweil auf die Suche nach dem verlorenen iPhone, klappern Hotel und Supermarkt ab und landen schließlich bei der Polizei, denn ein Fundbüro gibt es nicht.

Kaum sind wir mittags wieder an Bord, kehrt Takahishi-San mit einem einwandfrei reparierten Schlauch zurück. Erich montiert ihn sofort, füllt die 15 Liter Öl wieder auf und startet den Motor. Er springt sofort an und surrt wie eine Nähmaschine. Wir atmen auf. Wir haben Glück im Unglück gehabt, dass der Schaden nicht auf See, sondern im Hafen passiert ist.

Eigentlich hätte Erich wegen der Zahnschmerzen längst zum Arzt gemusst. Aber der Sturkopf schluckt Tabletten und beginnt mit der Säuberung des Motorraums. Ich mache mich währenddessen noch einmal systematisch auf die Suche im Boot nach dem verschwundenen iPhone. Nachdem ich schon fast die Hoffnung aufgegeben habe, durchforste ich ein letztes Mal unsere Rucksäcke. Und siehe da: Im doppelten Boden von Erichs Rucksack werde ich fündig. Hurra – wieder ein Problem gelöst!

Aber ein neues wird immer offensichtlicher: Erichs Backe schwillt an. Er kann vor Schmerz kaum schlafen. Meine Geduld ist zu Ende: Wir müssen zum Zahnarzt!

Tag 3, Samstag

Um 9 Uhr morgens fährt Takahashi-San den schmerzgeplagten, übernächtigten Erich und mich zum zahnärztlichen Wochenend-Notdienst. Mit dem Zahnarzt klappt die Verständigung auch ohne Worte. Es wird geröntgt, gebohrt und plombiert, und nach einer Stunde wird der Patient mit Tabletten gegen Schmerz und Entzündung entlassen. Für’s Erste.

Optimisten, die wir sind, lassen wir uns zum „Rent a Car“ kutschieren und buchen für die kommenden drei Tage einen Leihwagen. Am Nachmittag bringen wir den Maschinenraum auf Hochglanz. Aber dann nehmen wir unseren geplanten Abstecher in die Japanischen Alpen in Angriff.

Darüber später.

Herzliche Grüße
Heide & Erich

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